Dienstag, März 31, 2015

Keime, Koalition und Stühlerücken

Ein ganzer Monat ist verstrichen seit dem Tag der estnischen Parlamentswahlen. "Regierungspartei gewinnt die Wahl", so lautete das Resumee vieler Medien (siehe Spiegel, Die Presse, NOZ, Merkur, WDR). Aufmerksamkeit zog auch der erneut erhöhte Anteil derjenigen auf sich, die "per Internet", (E-Voting) ihre Stimme abgegeben haben (Heise.de, Finanztreff). Und einige Tage später kam noch die Feststellung: "Regierung verliert Mehrheit" (FAZ, Süddeutsche, Stern, Kurier). Gestern fand bereits die erste Stitzung des neu gewählten Parlaments statt - aber wie die Regierung genau aussehen wird, und mit welchem Koalitionsprogramm sie antreten will ist noch immer unklar. Noch bevor die neue Regierung gebildet werden kann, hat sich in Estland bereits politisch sehr viel verändert.

Die Veränderung liegt allerdings nicht nur in zähen Koalitionsverhandlungen. Fast ebenso einschneidend war eine schwere Krankheit des Tallinner Bürgermeisters und Vorsitzendem der Zentrumspartei, Edgar Savisaar. Die Pressestelle der Uniklinik Tartu sprach von einer "Infektion" (mit Streptokokken), und als Folge musste Savisaar ein Bein teilweise amputiert werden (ERR). Die Zentrumspartei hatte bei den Wahlen am 1.März 24,8% der Stimmen und 27 Sitze errungen - einer davon ging mit einer Rekordzahl von 25.057 Stimmen an Savisaar. Zum Vergleich: Regierungschef Taavi Rõivas vereinigte 15.881 Stimmen auf sich (siehe estn. Wahlkomitee).
Nun wird bereits darüber spekuliert was nach einem möglichen Rückzug Savisaars aus der Politik passieren könnte.

Möglicherweise das "neue Gesicht" der estnischen
Zentrumspartei: Kadri Simson, die an der Uni Tartu
und am University College London studiert hat und sich auf
ihrer Facebook-Seite als Rolling-Stones- wie auch
Paavo-Järvi-Fan ausgibt
Bisher war die Frage einer möglichen Erhöhung oder Abstufung der Einkommenssteuer am meisten als Hinderungsgrund für eine Einigung auf eine neue Regierungskoalition genannt worden. Die Reformpartei will die Steuern lieber senken und dafür das Kindergeld erhöhen.

Drei Wochen lang mühte sich Taavi Rõivas (Reformpartei), vier Parteien in die Gespräche einzubeziehen: die beiden bisher regierenden Reformpartei und Sozialdemokraten, die konservative IRL (Pro-Patria- und Res-Publica-Union), und auch die neu gebildete "Freiheitspartei" (Eesti Vabaerakond). Sollten sich bisher drei als unausweichlich unverzichtbare Partner der Reformpartei gesehen haben - denn die Zentrumspartei schlossen ja alle als Regierungspartner aus - so könnte sich das nun, mit möglicherweise neuer Führung der Zentrumspartei auch ändern. Einerseits könnten sich mögliche Partner der Reformpartei veranlasst sehen, für ihre "Treue" mehr zu fordern. Andererseits steht die estnische Parteienlandschaft möglicherweise an der Schwelle zu unerwarteter Flexibilität und Veränderung.

Steht diese Dame möglicherweise bald schon "zwischen"
diesen beiden Herrn?
(vlnr: Taavi Rõivas, Kadri Simson, Sven Mikser)
Kurzfristig am meisten Profit zieht offenbar die neue (von der IRL abgespaltene) "Freiheitspartei", deren Ausrichtung ja ohnehin noch mit vielen Fragezeichen versehen werden muss. Neueste Umfragen zufolge sehen die Partei bei 12% (ERR). Ginge es nur nach Umfragen - dann sahen auch schon mal angeblich 78% der Befragten die Freiheitspartei als Teil der neuen Regierung (was nun wahrscheinlich ja nicht eintritt). 

Ein Rücktritt von Savisaar könnte aber auch zur Bildung einer neuen, möglicherweise radikal pro-russischen Partei führen, meinen einige. Andere spekulieren bereits jetzt über ein mögliches vorzeitiges Ende der Koalition, die jetzt erst noch gebildet werden muss. Die Zentrumspartei dem gegenüber nominierte Franktionschefin Kadri Simson als vorläufige Parteichefin - eine Idee, die einige Parteimitglieder schon vor den Wahlen gerne vollzogen hätten.

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