Montag, Januar 31, 2011

Halbbaltische Kakophonie oder: Eine Großtante wird mißbraucht ...

Mit dem Verlust des Siedlungszusammenhangs ging die "deutschbaltische Kultur" endgültig unter, wird im Begleitmaterial zum Film POLL geschrieben. Ich frage ehrlich in die Runde: Was war (oder ist) eigentlich die "deutschbaltische Kultur", was macht(e) sie aus, worin unterschied sie sich von der deutschen "Rein-"kultur? Wenn es eine eigene deutschbaltische gab, gibt sie der Film Poll auf jeden Fall nicht wieder bzw. zeichnet eine falsche.

Frank von Auer ist Estländer, also in Estland geboren. Er hat nicht nur Oda Schaefers Tagebuch gelesen („Auch wenn Du träumst, gehen die Uhren“ ist übrigens sehr wohl im Buchhandel zu erhalten!), das ein völlig anders deutschbaltisches Milieu zeichnet. Unter dem Titel: "Eine Großtante wird mißbraucht" schreibt er wie folgt:

"Oda Schaefer zeichnet nicht unkritisch, aber in warmen Farben das Bild einer deutschbaltischen Gesellschaft, auf der die Vorahnung des Ersten Weltkrieges lastet. Dennoch floss „das Leben auf dem Gut gleichmäßig dahin, sanft und mit kleinen Geräuschen wie ein Bach unter Gras und Farnen“. Der Film entwirft eine andere Szenerie, suggeriert jedoch, er spiegelte die Realität des Lebens im Baltikum, gaukelt über historische Namen wie Oda, Poll oder Kügelgen Authentizität vor. Chris Kraus (ein Großneffe Oda Schaefers) bezeichnet den Film als „historisches Drama“.

Aber mit der Geschichte steht er auf Kriegsfuß: Er verlagert die nationalen und kommunistischen Aufstände der Esten und Letten mit den Strafexpeditionen des russischen Militärs und des deutschbaltischen Selbstschutzes aus den Jahren 1905/1906 (siehe auch: Edzard Schaper in seinem Roman „Der Henker“) in die Vorkriegszeit 1914, die relativ ruhig war. Wie in jeder guten Schnulze sind die Aufständischen von adeligem Gemüt, ermordete Adlige und Pastore eigentlich selber schuld und nur die Strafexpeditionen blutig.

Das Leben auf einem baltischen Gutshof wird zur Karikatur: Kein Baron tummelte sich vor dem Dienstpersonal in einer Badeszene, kein Baronssohn wurde sadistisch bestraft und keinem Verwalter bei Tische angedroht, ihm „den Arsch zu versohlen“. Zumindest vor den Kindern und Damen wurde die Form gewahrt. Großtante Oda Schaefer erzählt dafür ein heiteres Beispiel: Als „der braungefleckte Jagdhund“ im Schlaf „bei geschlossenem Maul dumpf bellte oder absonderliche Geräusche und Gerüche von der entgegengesetzten Seite entweichen ließ“, durften „wir Kinder nicht darüber lachen, das wäre unanständig gewesen“. Der Film zeichnet aber ein Milieu, das mit einem baltischen Gutshaus wenig zu tun hat.

Von der Fähigkeit so mancher Deutschbalten zur ironischen Selbstkritik, zum Umgang miteinander auf einer zweiten Ebene, also zum "Pliggern", ist nichts zu spüren. Im Film sind sie durchweg humorlose, wenig sympathische Typen einer morbiden Gesellschaft.

Das Gutshaus stellt Chris Kraus auf Stelzen ins Meer – eine ebenso imposante wie realitätsferne Kulisse. Es hätte keinem Herbststurm getrotzt. Ach, hätte er doch die gewiss nicht geringen Kosten für die Renovierung eines der verfallenden Gutshäuser genutzt!

Die Schauspieler sollen sich des baltischen Idioms bedienen – pflegen jedoch ein merkwürdiges Kauderwelsch, in dem z.B. das G auch vor dunklen Vokalen wie J gesprochen wird (janz statt ganz, jut statt gut). Hätte der Regisseur seine Schauspieler intensiver üben lassen, wäre diese halbbaltische Kakophonie mit ihren falchen Eis zu vermeiden gewesen.

Eine historische Realität spiegelt der Film nicht. Aber muss er das? Ja, weil er selbst diesen Anspruch erhebt, aber den Zuschauer täuscht. Nein, weil alle Einwände aus deutschbaltischer Sicht nur Teilaspekte betreffen, der von einer etwas unbedarften Kritik als Kunstwerk gerühmt wird. So bleibt nur, sich ihn selbst anzusehen: sich über den Missbrauch einer Großtante, historische Fehlinformationen und falsche Milieuschilderungen zu ärgern oder - sich über die eindrucksvollen Bilder und Schauspieler eines filmischen Kunstwerkes zu freuen.

Untergang in Estland

Blaugraue Farben, von allgegenwärtiger Feuchtigkeit abblätternder Putz, notdürftige Stützbalken - auch ein Gebäude kann symbolisch für einen kommenden Untergang stehen. Nur notdürftig aufrechterhaltene Harmonie der Familie, gewaltsame Männer und mühsam das Ansehen wahrende Frauen - diese sommerlichen Tage an der estnischen Küste sind hier weit entfernt von erholsamer Sommerfrische. 1914 wurde in Estland einer der ersten (estnischen) Filme gedreht: "Bärenjagd in Pärnumaa" - ein Sängerfest froh gestimmter Esten gab es im Jahr des Kriegsausbruchs nicht (nach 1910 erst 1923 wieder).

Edgar Selge, Paula Beer, Jeanette Hain und Chris Kraus
am 28.1. bei der Filmpremiere in Hamburg
2010 ist das Jahr, in dem "Poll" fertiggestellt wurde. Im weitesten Sinne spielt dieser Film ebenfalls in "Pärnumaa" (siehe auch "Westsee"). 14 Jahre war die Nachwuchs-Schauspielerin Paula Beer bei den Dreharbeiten, in etwa dieselbe Zeitspanne brütete der Regisseur über dem Drehbuch bis es zur Realisierung reichte. Keiner der noch bestehenden alten Gutshofsgebäude in Estland reichte ihm für eine Umsetzung, zwei Jahre sei er in verschiedenen Ländern Osteuropas herumgereist auf der Suche nach einem geeigneten Drehort, so Chris Kraus am 28.1. bei der Filmpremiere in Hamburg. Auch die Deutschen, die Estland bereits kennen, müssen sich während dieses Films damit abfinden, dass weder die vielleicht bedeutsamen Kulturleistungen von in Estland als Oberschicht etablierten Deutschen hervorgekramt werden, noch die für den müden Städter attraktiven Landschaften des Naturtourismus.

Premierenbesucher
Ein Hilfsmittel zum Verständnis, was diesen Film eigentlich ausmacht, ist auch der englische Titel "Poll diaries" (Poll Tagebücher). Die realen Aufzeichnungen der Oda Schäfer - leider soweit ich weiß nicht öffentlich zugänglich - sind der rote Faden, nach dem das Drehbuch auch während der Produktion etliche Male umgeschrieben wurde. Es geht also nicht um das Bemühen, einen Zeitabschnitt (also den Ausbruch des 1.Weltkriegs) aus estnischer oder deutschbaltischer Sicht zu zeigen. Es geht vielmehr um die Absicht des Drehbuchschreibers, die seiner Ansicht nach vorhandenen Lücken in Oda Schäfers Schilderungen mit Leben füllen zu wollen. "Meine ganze Familie ist absolut gegen den Film", bekennt Kraus in einem Interview mit Michael Guillen für "Twitch". Sein früherer Berufswunsch, Historiker zu werden, ist inzwischen vom Rampenlicht erleuchtet. Die Suche nach Fakten und Hintergründen ist von der Lust am Ausmalen von Geschichten, am ins Bild setzen von Träumen und Visionen, und vom Bestreben nach Unterhaltung des Publikums erfüllt - sogar von dem Gefühl der Zufriedenheit, durch gute Teamarbeit sogar große Projekte stemmen zu können. Das werden ihm die Deutschbalten entschuldigen müssen. Bestes Argument: ein guter Film.

Paula Beer
Nach dem Kinobesuch bleiben zunächst die Eindrücke der sehr gelungenen Dinge vorherrschend. Monumentale Bilder einer untergehenden, rätselhaft verschrobenen Welt. Eine herausragende Figur der Oda, die das große Lob für die Darstellung ihrer Rolle sicher nicht nur an ihr Schauspielcoaching weitergeben sollte, sondern auch an Maske, Szenenbild und Kamera. Chris Kraus drehte mit einem überwiegend weiblichem Team (noch eine Feststellung von Michael Guillen). Das Erstaunliche liegt auch im Spektrum der emotionalen Herausforderungen, die sich Oda stellen muss: manchmal eher einer 14-Jährigen gemäß, manchmal eher eine 40-Jährigen. 

All das setzt der Film auf beeindruckende Weise ins Bild. Vielleicht bestand auch die Befürchtung der Filmemacher darin, die Zuschauer könnten zunächst Zweifel an Oda bekommen, und dann Zweifel an der zugrundeliegenden wahren Geschichte. So hat man es erst gar nicht versucht, im Bezug auf Estland und die Deutschbalten allzu genau zu sein: das "echte" Gut Poll (Põlula) liegt nicht direkt am Meer, und im Film tauchen vielleicht mehr "Anarchisten" auf als es im realen Estland von 1914 wirklich gab. "Die Unruhen in Ägypten eskalieren und drohen vollends in Anarchie umzuschlagen" - ein Satz aus der heutigen Tagesschau. Nein, vielleicht drohte 1905 in der damaligen russischen Ostseeprovinz Estland so etwas wie "Anarchie" - zumindest ein Volksaufstand. Jeder geschichtsinteressierte Deutsche wird Esten auch nach der "Georgnacht" fragen können. - Und gegen Ende des 1.Weltkriegs waren es schon eher "Freiheitskämpfer"- so zumindest die Selbstdefinition. Auch "Waldbruder" ist ja nun wieder ein anderes historisches Stichwort, ebenfalls verbunden mit gegen die herrschende Macht sich in Sümpfen und Wald versteckenden bewaffnet organisierten Menschen. In diesem Sinne musste der Film viele Klippen umschiffen - auf dem Weg zu einer Vision vom Untergang, der vorwiegend symbolische Ausmaße und Erscheinungsformen hat.
Premierenpublikum in Hamburg

"Du kannst noch so viele Köpfe aufsägen, du hast keine Ahnung was einen Menschen ausmacht," so der vielsagende Hinweis der "Milla" an ihren Mann, dessen "Labor" die ganze Szenerie des heraufziehenden Unheils beherrscht. Während die Figur des hirnaufschneidenden Arztes (Edgar Selge) im Laufe des Films eher schwächer wird, explodiert plötzlich die Gestalt des eher steifen, wortkargen Hausverwalters Mechmershausen. Auch hier hat der Drehbuchautor wohl den Deutschbalten noch einen weiteren Diskussionsgegenstand absichtlich vorgesetzt - ansonsten hätte in dieser Funktion und Rolle ja auch leicht ebenso ein Este sein können. Auch 1905 hatten sich einige bereits deutschfreundlich assimilierte Esten gegen ihre Gutsherren gewandt. 

Tambet Tuisk
Die Mehrheit der Zuschauer wird den Kinosaal wahrscheinlich beeindruckt verlassen, so wie ich. Beeindruckt von den Bildern, Landschaften, Stimmungen und Farben, von einer nach ein paar wenigen Längen sich zum Schluß dramatisch entwickelnden Handlung, und guten Schauspielern. Auch die Musik findet sich gut in die Filmstimmung ein. Nicht verstanden habe ich, warum Verleih und Produktionsfirma jegliche nähere Info zu Enno Trebs (in der Rolle des Paul) wegläßt - denn auch diese Rolle wurde konsequent und gut ausgefüllt, und ist nicht ganz unwichtig auch für die Entwicklung der Handlung. Spannend ist aber, dass Regisseur und Drehbuchautor Chris Kraus offenbar für verschiedene potentielle Zuschauergruppen noch kleine Rätsel offen läßt, die entweder zum mehrfachen Filmschauen einladen, oder zum eifrigen Nachfragen bei kundigen Leuten (ersatzweise: Wikipedia). Das fängt an bei einigen vom Original-Esten Tambet Tuisk in Original-Estnisch gesagten Aussprüchen und hört auch bei dem ebenfalls von Tuisk alias "Schnaps" den genauen Zuhörern hingeworfenen Namen "Kügelgen" nicht auf. Schnaps lernt angeblich ausgerechnet in Sibirien von einem Offizier aus Riga Deutsch, um ihn dann zu töten. Solche fein ausgedachten Spitzen gehen allerdings etwas unter im Soundmanagement - sie sind kaum zu verstehen. In estnischen Augen von heute wirkt dagegen in diesem Film vielleicht der unüberhörbare und sichtlich zwanghafte Umgang mit "Hausmusik" eher merkwürdig.

Ich vermute also, es werden noch andere Reaktionen folgen auf diesen Film.

Mehr zum Film "Poll" - Zuschauerreaktionen nach der Premiere in Hamburg, und ein Interview mit dem estnischen Schauspieler Tambet Tuisk ("Schnaps") - werden zu hören sein in der Sendung "Baltische Stunde" vom 15.2.2011.

Sonntag, Januar 30, 2011

Lennart Meri - Rückblick


Der Präsident Estlands von 1992 bis 2001 führte für sowjetische Verhältnisse bis 1991 ein außergewöhnliches Leben. Unter seinen Berufsbezeichnungen tauchen Filmemacher und Schriftsteller auf.
Unter dem Titel Foto Plakat, Joon Stuudio, finden sich einige Aufnahmen seiner Expeditionszeit.

Lennart Meri 80. sünniaastapäevale pühendatud mälestusnäitus


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Sonntag, Januar 23, 2011

Poll - vor dem Kinostart


Der neue Kinofilm von Chris Kraus nun auch in Aspekte beim ZDF. Wer schon auf den Filmstart wartet, hier weitere Hintergründe zu der Idee, in Estland zu drehen:

Liebe in Zeiten des Untergangs , Aspekte
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Von Siering ist Pathologe, der in einem umgebauten Sägewerk die Schädel der ermordeten Anarchisten zersägt, die ihm die russischen Soldaten überlassen. Er will herauskriegen, wo in diesen Köpfen das Böse sitzt. Abends spielt er im Kreise der Familie Kammermusik - ein kunstsinniger Mensch und seiner 14-jährigen Tochter Oda ein liebevoller Vater. Oda will Schriftstellerin werden. Diese Figur hat ein reales Vorbild: Oda Schaefer, eine Naturlyrikerin und Essayistin, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland zu einigem Ansehen kam. Sie war eine Großtante des Regisseurs Chris Kraus. Wegen ihrer linksliberalen Ansichten war sie das schwarze Schaf der Familie. Sie starb 1988.
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Hier der Aspekte Beitrag mit Chris Kraus.

Großes deutsches Kino - ZDF

Die Webseite Poll Ein Film von Chris Kraus

Aus Unterdrückern wurden Unterdrückte (nach 1918). Gemeint sind die Deutschbalten. Naja. Das steht auf der Filmwebseite mit den Hintergrundinformationen:

Deutsche, Balten, Russen
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Nach Ende des Krieges wurden die deutschbaltischen Grundbesitzer, die nicht in den Wirren der bolschewistischen Interimsregierung umgekommen waren, von den neu gegründeten Nationalstaaten Estland und Lettland weitgehend enteignet, verarmten zum Teil dramatisch und spielten keine politische Rolle mehr. Die Herrschaftsverhältnisse hatten sich verkehrt, aus den Unterdrückern waren Unterdrückte geworden. Zahlreiche Deutschbalten wanderten aus. Die letzten 90.000 ihrer Landsleute wurden kurz nach Ausbruch des 2. Weltkrieges im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes, der die baltischen Länder bis 1991 zu einem Teil der Sowjetunion werden ließ, in den deutsch besetzten Teil Polens umgesiedelt. Von dort vertrieb sie 1945 die einmarschierende Rote Armee. Mit dem Verlust des Siedlungszusammenhangs ging die deutschbaltische Kultur endgültig unter. Der Großteil der überlebenden Flüchtlinge ließ sich in allen Teilen Westdeutschlands nieder, viele wanderten nach Kanada und Schweden aus. In Lettland und Estland leben heute nur noch ca. 300 Menschen, die sich selbst als Deutschbalten bezeichnen.
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Die armen Deutschbalten, ja, dann aber bitte auch erwähnen, dass 1939, um Platz für die deutschbaltischen Umsiedler zu machen, nicht wenige Polen und Juden aus ihren Häusern vertrieben wurden. Was ist aus denen geworden?
Nebenbei wird im Überblick auch die Kulturautonomie der Minderheiten und die deutschen Schulen der Zwischenkriegszeit unterschlagen. Typisch für Unterdrückte, gell?

Update:
Noch eine positive Filmkritik:
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Nicht wenige Filme wollen große Geschichten erzählen. Allein den wenigsten gelingt dieses Kunststück. Poll gehört zweifelsfrei dazu. Bereits die Bildsprache stellt den dafür notwendigen Mut unter Beweis. Die Kamera von Daniela Knapp scheut nicht das Monumentale, wenn sie entfesselt über das Anwesen der von Sierings kreist und so den bröckelnden Glanz dieser Aristokratenfamilie im Lichte einer untergehenden Sonne einfängt. Das sind Kinobilder, wie man sie im deutschen Film leider viel zu selten findet – gemacht für eine große Leinwand.

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aus Marcus kleine Filmseite
Poll - Die Buddenbrooks vom Baltikum

Montag, Januar 17, 2011

Ekipaaž nr. 15 - Rallyezeit


Ekipaaž nr. 15
Originally uploaded by Angryhead
Ich weiß, ich weiß. Nicht gerade der Öko-Wintersport. Aber äußerst beliebt in Estland (fast) seit es Autos gibt. Da sind die Unterschiede zwischen Esten und Finnen nicht sehr groß.

Das ist von der Võrumaa talveralli 2011.

Die erste allgemeine Rallye fand 1912 statt. Tallinn-Märjamaa-Tallinn. Die ganze Automobilsport-Geschichte in Estland hier:
Sportauto.ee

Sonntag, Januar 09, 2011

Mit gleicher Münze ...

In einem Punkt kann Estland zu Beginn des Jahres 2011 auf jeden Fall zufrieden sein: an Aufsehen in der internationalen Öffentlichkeit mangelte es nicht. Das lädt dazu ein zu versuchen, ein wenig Bilanz zu ziehen. Wie haben sich die Pro's und Konta's rund um die Euro-Einführung verteilt? Einmal vorausgesetzt, man hätte alle Beiträge in der englisch- und deutschsprachigen Presse dazu gelesen: sind wir schlauer geworden? Hat es etwas gebracht?

Psychologie und die Gunst des Augenblicks
Soweit ich mir zutraue, das estnische Selbstverständnis und die Interpretation der eigenen Identität zu kennen und einschätzen zu können, müsste Estland zunächst mal sehr zufrieden sein. Wo die südlicheren baltischen Nachbarn neuerdings eher künstlich erzeugte Kampagnen benötigen, um international Aufsehen zu bewirken (lettische Weihnachtsbäume, litauische Parfums), ist Estland parallel zur Entwicklung der Euro-Einführung auf dem besten Weg, sich eigenständig ins Gedächtnis der internationalen und auch der deutschen Öffentlichkeit einzuprägen. Weg von "im Baltikum, auf der Karte oben", hin zu "nordisch", "internetfreundlich", "fremdsprachenkundig", "europäisch", und eben "das Land mit dem Euro". Und auch eine Motivation zur Anwendung des estnischen Euro liefert Estland den internationalen Gästen gleich mit: das Jahr der Europäischen Kulturhauptstadt Tallinn lädt zu einem breit gefächerten Veranstaltungsprogramm ein.

Dennoch sage ich: ja, ich gestehe, ich bin keinesfalls zufrieden dass zwischen dem Euro-Land Deutschland und dem Euro-Land Estland so ein großes Gefälle besteht. Wenn es in Estland über 15% Arbeitslosigkeit gibt, wenn Menschen aus ihrem Heimatland als Arbeitsmigranten weggehen müssen, weil im Arbeitsplätze ersatzlos verfallen, große Landflucht herrscht, kein angemessener Lohn gezahlt wird, oder die soziale Absicherung fehlt, dann kann das nicht der Normalfall sein. Sollten die finanzpolitischen Maßnahmen, welche die EU-Mitgliedsstaaten untereinander vereinbaren, nur dazu da zu sein um den Reichtum der Wohlhabenden abzusichern, kann das nicht im Sinne eines guten Miteinanders in Europa sein. 

Allerdings: Die Argumente der Euro-Gegner überzeugen mich nicht. Hier kommt einiges zusammen, was sich häufig nicht zusammenreimt, sobald mal mehrere Argumente gegen den Euro zusammengenannt werden.
Daher hier mal gesammelt:
  • - die Esten sind sowieso zu dumm, die trauen sich nicht etwas gegen ihre Regierung zu sagen (na toll! Zeugt von sehr viel Sympathie für Estland.)
  • - der Euro geht sowieso unter (plötzlich werden alle zu Finanzexperten, seltsam. Auf der einen Seite steht angeblich die Logik der Vernunft, aber auf der anderen viel Mysthik und Populismus)
  • - die Sparpolitik geht zu Lasten der Ärmeren (ok, aber dürfte eine estnische Krone mit vollen Händen staatlicherseits ausgegeben werden?)
  • - einige kluge Wissenschaftler sind gegen den Euro (na ja - jeder zitiert da einen Lieblings-Experten, während sonst jeder an die Käuflichkeit und Parteilichkeit auch von Expertenurteilen glaubt. Oder soll hier angeblich mal wieder der Untergang des Kapitalismus vervorstehen, wenn es nur genug Chaos gibt?)
  • - die Esten treten nur dem Euro bei, weil sie geschönte Bilanzen haben wie die Griechen (das ist liegt schon nahe an der Diffamierung bestimmter Gruppen, die man angeblich ja im interkulturellen Zusammenleben in Deutschland bekämpfen möchte)
  • - die Esten wollen nur auch Deutschland noch auf der Tasche liegen (wer das denkt, sollte dringend mal nach Estland fahren und mit Esten reden!)
  • - die Lohnkosten steigen zu schnell, daher freuen sich die Esten auch über den "harten" Euro (wieder so ein Argument, wozu es sich lohnen würde in Estland mit Esten zu diskutieren. Wenn schon, dann trauern sie ihren "harten" Kroon nach)
  • - die Inflation wird wieder steigen, und dann erfüllt Estland die Beitrittskriterien nicht mehr (na wie denn nun: entweder das System Euro verteidigen, und die Einhaltung von Kriterien belohnen, oder vielleicht ist einem das Finanzsystem auch ganz egal?)
  • - die private Verschuldung sei zu hoch (ja, und fragen sie mal, in was die Leute ihr Geld angelegt haben: in Kroon oder in Euro? Und wer möchte diejenigen, die Geld in Kroon angelegt haben, mit einer Abwertung bestrafen?)
  • - Estland habe die falsche Regierung (aber immerhin eine funktionierende Demokratie!)
  • - die Landkarten auf den Euro-Münzen sind falsch gezeichnet (mit dieser Kritik haben angeblich russische Estland-Gengner die russischen Medien mobilisiert. Die bösen Esten also schon wieder? Russland zog 2005 seine Unterschrift unter den schon fertigen Grenzvertrag wieder zurück, angeblich um mögliche estnische Forderungen vorzubeugen - nun erinnert die russische Seite schon selbst an die völkerrechtswidrige Besetzung Estlands, sehr praktisch - obwohl an der Münze offenbar nichts auszusetzen ist  - urteilen Sie selbst, ob sich dieser Streit lohnt)
  • die estnische Krone war als nationales Symbol wertvoll (stimmt, besonders die mutige Loslösung vom russischen Rubel werdendie Esten in Erinnerung behalten. Aber warum darf es über den puren Nationalismus hinaus keine anderen Lösungen geben?)

Was fehlt: Europa besser machen!
Liebe Leute! Ich denke, mir geht es so: auf dem Wegen zum europäischen Einigungsprozess haben wir noch viel vor uns. Wir haben Estland zur Mitgliedschaft eingeladen, und nun wundern wir uns, dass Estland Europa ernst nimmt? Machen wir uns doch nicht allzu sehr davon abhängig, ob nun der eine Teil der Wirtschaftstheoretiker Recht hat oder der andere - viele scheinen nur deshalb für oder gegen den Euro zu sein, damit es mit der eigenen politischen Überzeugung übereinstimmt. Da wird dann Estland instrumentalisiert, nur damit die Diskutanten in der Diskussion besser dastehen.
Ich würde mir wünschen, dass mehr Solidarität und Zusammenarbeit das Geschehen in Europa bestimmt. Wenn eine Gemeinschaftswährung scheitern sollte, wird es anderer Strategien bedürfen als schadenfroh an der Seite zu stehen. Wenn der Euro aber bleibt, werden wir dafür sorgen müssen dass er nicht zum Symbol bestimmter Währungsideologien verkommt. Wohlergehen und gute Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle muss das Ziel sein, so unterschiedlich die Länder in Europa auch sind. Die Verschiedenheit soll ja auch bleiben! Vielfalt der Kulturen kann Spaß machen.
Mit Mindeststeuersätzen für alle Unternehmen und einer besseren Kontrolle der Finanzmärkte kann ich mich gut anfreunden. Aber nicht mit scheinklugem Geschwätz über ein Land, dass die meisten dann wenn es aus den Schlagzeilen gerät nicht mehr wirklich interessiert.

Dienstag, Januar 04, 2011

Frohes Neues Jahr!


New year's eve!
Originally uploaded by Mait Jüriado
Wünscht Mait Jüriado. Wer keine Probleme mit gestellten Aufnahmen hat, sollte mal bei seinem Photoblog vorbeischauen.
Mait Jüriado
Diese Schneeaufnahmen werden wir wohl auch noch in den nächsten Monaten sehen. Es schneit weiter. Auch wenn leichtes Tauwetter zum Wochenende vorhergesagt wird.

Sonntag, Januar 02, 2011

Tallinn-Europas Kulturhauptstadt 2011

Nicht nur die Euroeinführung, sondern auch der Auftakt zum Jahr der Kulturhauptstadt fand in der Silvesternacht statt. Tallinn in Estland und Turku in Finnland sind die Veranstaltungsorte, hier das Video aus Tallinn, der Anfang ist absichtlich etwas konfus mit den Moderatoren:

Samstag, Januar 01, 2011

Willkommen in der Eurozone



Das waren die Stationen:
Sowjetischer Rubel bis 1992
Estnische Krone bis Ende 2010
Euro ab 2011

Eine Diskussion fällt weg. Die Ratschläge, die Estnische Krone während der Krise abzuwerten. Sehr unwahrscheinlich, denn die Eesti Kroon war an die D-Mark und später an den Euro gebunden. Jetzt dürfen alle über den Euro weiter debattieren, oder über den Ausstieg, oder die Erweiterung der Eurozone 2014 (vages Datum für Lettland und andere).

Update:
Andrei Tuch, auf den ich im letzten Post verwiesen habe, wurde nun auch im Guardian zitiert:
Andrei Tuch, a political blogger, says he understands the emotions but not the economic arguments, pointing out that Estonia scrapped the independence usually enjoyed by a sovereign currency back in the early 1990s, when the kroon was pegged to Germany's currency. "The kroon was always meant to be a deutschmark in all but graphic design," he says.

Estonia gets cool welcome from a eurozone in crisis