Freitag, Oktober 31, 2008

Welcher Este will wirklich nach Brüssel umziehen?

Seit einiger Zeit wird in der estnischen Presse berichtet, wer wohl für welche Partei bei den kommenden Wahlen zum Europaparlament kandidieren wird.

Gegenwärtig sind unter den sechs Abgeordneten in der Heimat ziemlich bekannte Politiker wie der frühere Ministerpräsident Andres Tarand und die frühere Ministerin Katrin Saks von den Sozialdemokraten, die frühere Sozialministerin der Zentrumspartei Siiri Oviir, der vormalige Parlamentspräsident Toomas Savi und der Dissident Tunne Kelam, welcher zu den Mitgründern der estnischen Unabhängigkeitspartei gehörte. Von diesen haben jüngst Andres Tarand und Toomas Savi ihren Rückzug aus der Politik angekündigt.

Im kommenden Jahr werden auf dem Wahlzettel wohl wieder vergleichbar bekannte Namen stehen. Als erster erklärte der Chef der Zentrumspartei, Edgar Savisaar, er werde kandidieren. Savisaar war von 1990 bis 1992 Ministerpräsident der Volksfrontregierung und führte das Land in die Unabhängigkeit. Sein Politikstil machte ihn unter Politikerkollegen jedoch unbeliebt, weshalb er noch vor der ersten Parlamentswahl abgelöst wurde und es seither nur zwei Mal wieder auf die Regierungsbank geschafft hat. Dabei war der erste Erfolg nur von kurzer Dauer und ging unter dem Namen Lindiskandaal (Aufzeichnungsskandal) in die jüngere estnische Geschichte ein. Savisaar hatte heimlich seine Gespräche während der Koalitionsverhandlungen mitgeschnitten.

Savisaar ist seither in der Heimat gleichermaßen gehaßt wie geliebt, seine Partei erzielt regelmäßig gute Wahlergebnisse, nur will eben von den anderen Parteien – wenn es denn rechnerisch eben geht – keine mit ihm zusammenarbeiten. Aber Savisaars Partei wird insbesondere von der nicht estnischen Bevölkerung gewählt, weshalb er derzeit, und nicht zum ersten Mal, wenigstens in der Hauptstadt Tallinn auftrumpfen kann – er ist Bürgermeister.

Angesichts dieses Zugpferdes bei der Zentrumspartei lassen sich auch die Spitzenvertreter der Konkurrenz nicht lumpen. So planen die Sozialdemokraten bereits auch, ihren Vorsitzenden zu portieren. Ivari Padar ist derzeit Finanzminister in einer Koalitionsregierung mit der Vaterlandunion / Res Publica und der Reformpartei. Die Regierung führt deren Parteichef Andrus Ansip, der nach dem letzten Urnengang 2007 die Koalition mit Edgar Savisaar trotz rechnerischer Möglichkeit durch den Dreierbund ablöste. Auch wird angeblich von seiner Partei gedrängt anzutreten.

Aber warum dieser Aktionismus für eine Wahl zu einem Organ, das bekanntlich eher wenig politischen Einfluß hat?

Nun steht es außer Frage, daß Ansip in seiner politischen Karriere im Inland kein einflußreicheres Amt mehr erreichen kann. Angesichts der verbreiteten Kurzlebigkeit von Regierungen in Estland – Mart Laars zweite Regierung von 1999-2002 hält einstweilen den Rekord – ist es nicht unwahrscheinlich, das jedwede innenpolitische Krise oder irgendein Skandal auch vor den nächsten Wahlen seinen Sturz herbeiführen könnte.

Edgar Savisaar wiederum steht zwar als Bürgermeister im Rampenlicht der Medien, langweilt sich aber sicher auf diesem doch eher einflußlosen Posten, den er entgegen vorherigen Versprechungen von Jüri Ratas übernehmen konnte, weil 2005 seine Partei in der Kommunalwahl gut abgeschnitten hatte. Damals war ihm der Posten weniger wichtig, weil er gerade wenige hundert Meter vom Rathaus entfernt auf dem Domberg als Wirtschaftsminister einen offensichtlich interessanteren Job hatte – eben bis zur Aufkündigung der politischen Ehe mit Ansip 2007. Bürgermeister war Savisaar vorher schon einmal gewesen, hatte das Amt aber durch ein Koalitionsrevirement wieder verloren.

Ivari Padar wiederum hat eine Partei im Rücken, die zu klein ist, um ihm nach der Übernahme verschiedener Ministerien in verschiedenen Koalitionen weitere Perspektiven zu eröffnen.

Da in Brüssel und Straßburg dank der Schwierigkeiten rund um den Lissaboner Vertrag und den Diskussionen innerhalb der Union über die Reaktion auf die Krise im Kaukasus diesen Sommer einige gleichermaßen interessante wie schwierige Dossiers zu verhandeln sind, reizt die erwähnten Herren die Aufgabe vielleicht tasächlich.

Über Ansips Kandidatur gibt es allerdings einstweilen nur Spekulationen. Er selbst hat eine Absicht negiert und darauf verwiesen, daß ein amtierender Regierungschef nicht für das Europaparlament oder bei Kommunalwahlen kandidieren könne. Die öffentliche Spekulation freilich begründet sich durch das kategorische Nein des Gründers der Reformpartei, früheren Notenbankchefs und Ministerpräsidenten Siim Kallas, der zur Zeit EU-Kommissar in Brüssel ist.
Es ist jedoch zu bezweifeln, daß einer der genannten Politiker tatsächlich im Falle einer erfolgreichen Wahl nach Brüssel übersiedeln würde. Edgars Savisaar erklärte bereits öffentlich, eine solche Zusage könne einstweilen kein Politiker geben, weil bis zur Wahl noch viel Wasser ins Meer fließe. Er selbst sei außerdem verliebt in Tallinn, wo es noch viel zu tun gebe.

Kern dieser Fragen ist, daß die vergangenen Europawahlen in den baltischen Staaten von den Wählern als Protestwahl genutzt wurden und jene Parteien, die damals an der Regierung waren, abgestraft wurden und auch kleine Parteien Erfolge verbuchen konnten. So kommt es, daß gerade die Reformpartei keinen zugkräftigen Kandidaten hat, der bereits im Europäischen Parlament säße.

Die erst 2007 neu in das nationale Parlament eingezogenen Grünen wollen mit allen ihren Spitzenpolitikern kandidieren. Die Volksunion will sich erst nach ihrem nächsten Parteikongreß entscheiden. Sie hat die Korruptionaaffäre rund um ihren früheren Chef Villu Reiljan zu verkraften.

Da nur sechs Mandate zu vergeben sind, ist die Konkurrenz eng. Es geht für alle Parteien darum, wenigstens ein Mandat zu erringen, für die größeren wäre natürlich nur der Gewinn von zwei Vertretern ein Erfolg.

Donnerstag, Oktober 30, 2008

EE wie Estland - und was nun?

Wer ist Vladimir Tsastsin? Im Netz gab es bereits seit einiger Zeit Warnungen, EstDomains (ee) registieren zu lassen (so z.B. Talkgold).
Auf den Namen Tsastsin stieß in der Regel, wer eine estnische Domain mit der Endung ee registieren lassen wollte. Dazu befugt war bisher die Firma ESTHOST INC in Tartu.

Fachportale melden nun, Tsastsin sei nun von der internationalen Agentur zur Vergabe der registrierten Domains ICANN (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) das Recht zur Vergabe der ee-Domains und die Betreuung der bereits bestehenden 281.000 Domains mit dieser Endung entzogen worden.
Tsastsin war in Estland am 6. Februar 2008 von ei
nem estnischen Gericht rechtskräftig wegen Kreditkartenbetruges, Geldwäsche und Urkundenfälschung verurteilt worden.
Verschiedenen Meldungen zufolge ist das Recht zum Betrieb einer neuen Registrarstelle neu ausgeschrieben worden.

Ob es Probleme für die bisherigen Kunden gibt, hängt weitgehend davon ab, ob sich Tsastsin sich in soweit kooperativ verhält, dass er die bestehende Kundendatenbank an die neue Registrarstelle übergibt.

Mehr dazu:

ZDnet Security

Meldung der ICANN


Softpedia

Washington Post (mit Einzelheiten zum Gerichtsprozess)

PCWelt

Mittwoch, Oktober 22, 2008

Frauen in Estland: Funsport oder lustiges Landleben?

Als deutschsprachiger Mensch und Estland-Freund ist es immer interessant mitzuverfolgen, welches Bild sich in den deutschsprachigen Medien wiederspiegelt. Da fallen in dieser Woche zwei Beiträge auf, die Frauen aus und in Estland zum Thema haben.

Da ist einerseits Evelin Ilves. "SCC-Running" interviewt sie als teilnehmende Inline-Skaterin beim Berlin-Marathon 2008. Das steht wohl unter dem Motto "Coole Präsidentin haben diese Esten (und Estinnen)"...

Interessant die Begründung zur Frage, wie denn die Bedingungen zum Inline-Skaten in Estland ausfallen: "
Jede neue Straße in Estland muss einen Fahrradweg haben, daher sind die Bedingungen besser als in vielen anderen Ländern." - Nun, sehr vereehrte Frau Ilves, das ist Europarecht (das mit den neuen Straßen und den dazu zu bauenden Radwegen!). Aber können Sie uns erstens verraten, ob Sie nun etwa auf den Radwegen skaten (ist das in Estland erlaubt? oder wegen nur wenigen Radfahrer/innen möglich?), und zweitens, warum denn die anderen EU-Länder (etwa die Nachbarländer Lettland und Litauen) nicht auch diese Gesetze gleichermaßen umsetzen?

Andere Aspekte zum Thema "Frauen in Estland" sind bei Agrar-heute nachzulesen. Dass die angeblich positive Entwicklung in der estnischen Landwirtschaft immer nur in Form von kurzfristigen Statistiken gemessen wird (nicht etwa von 1990 an gerechnet oder damit verglichen!), das sind wir ja schon gewohnt. Hier aber steht unkommentiert, dass 37% der 12.700 Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe in Estland Frauen seien. "Frauen spielen eine wichtige Rolle", steht da zu lesen. Als Geringverdiener, als landwirtschaftliche Zuerwerbsbetriebe (40% aller Betriebe haben zusätzlich eine außerlandwirtschaftliche Tätigkeit), als Alleinerziehende, als Öko-Bäuerinnen, oder als Liebhaberinnen des Landlebens? Vielleicht steht das ja mal woanders nachzulesen.

Dienstag, Oktober 21, 2008

Sumo-WM in Rakvere: "der Balte" kämpft für Estland

Mit Bezeichnungen wie "der Balte" (japanisch: "Baruto" siehe auch frührer Blogbeitrag) lassen sich offenbar in Japan Sumo-Ringer erschrecken - das wurde angesichts der Sumo-Weltmeisterschaft in Rakvere / Estland jetzt noch mal klar. Sumo-Ringen in "Barutos Homeland" Estland, sogar eine Weltmeisterschaft? Das ist wohl der Bekanntheit von Kaido Höövelson zu verdanken, früher Türsteher in einem Nachtklub und Judo-Kämpfer, geboren 40km von Rakvere entfernt (heute Star-Sumoringer). Zusammen mit Andres Jaadia, Bürgermeister von Rakvere, holte er nun die WM in sein Heimatland. Auch eine GEO-Reportage brachte inzwischen schon ein Interview mit diesem ungewöhnlichen Esten. Bei Enews wird auch auf Riho Rannikmaa verwiesen, der 2004 zwei estnische Sumo-Ringer erstmals dazu veranlasst haben soll, nach Japan zu gehen. Welche Schwierigkeiten es geben kann, wenn mal eine Sumo-WM außerhalb von Japan stattfindet, daran erinnert ein Beitrag bei "Spiegel-online" über die WM 1999 in Riesa.

Besonders ausführlich berichtet wurde in der deutschen Presse diesmal rund um Osnabrück: Sumo-Kämpferin Nicole Hehemann holte in Rakvere Bronze.

Mehr dazu:
Homepage Sumo-WM 2008

über "Baruto" bei "DCEstonian" (Englisch)

Bericht Neue Osnabrücker Zeitung

Sumo Eesti keeles


Montag, Oktober 20, 2008

Erinnerungskulturen - eine Fortsetzung



Seit zwei Jahren posten wir ab und zu über die verschiedenen Erinnerungskulturen rund um den 2. Weltkrieg in Europa, besonders Osteuropa. Ein Fazit lässt sich ziehen: Es tut sich wenig auf dem Weg zu einer einheitlichen Bewertung des 2. Weltkriegs, seiner Ursachen, seines Ablaufs und seiner Folgen. Zu sehr ist jeder in seinem eigenen Geschichtsraum verfangen.
Hier zitiere ich noch einmal Professor Dr. Stefan Troebst aus seinem Essay "Holodomor oder Holocaust?" in der FAZ vom 4. Juli 2005, Troebst ist zu dem Zeitpunkt stellvertretender Direktor des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Uni Leipzig.

Wenn in historischer Perspektive das Europäische an Europa ist, daß es Nationen gibt, dann ist und bleibt der Nationalstaat auf absehbare Zeit der primäre Bezugsrahmen für Erinnerung. Somit werden sich viele "Erinnerungsorte" wie der russ(länd)ische Erinnerungsort Stalingrad und das polnische Jalta mutmaßlich nicht in eine wie auch immer geartete Übereinstimmung bringen lassen. ...

Eher wird die Vierteilung Europas in Westeuropa, Westmitteleuropa, Ostmitteleuropa und Osteuropa, wie sie derzeit besonders deutlich hervortritt, zunächst noch tiefer werden. Die Kontroverse zwischen dem Jalta-Lager, also den postkommunistischen EU-Mitgliedsgesellschaften Ostmittel- und Nordosteuropas, und dem auf Stalingrad ausgerichteten Rußland hat gerade erst begonnen.


Das war 2005, dazwischen liegen die Bronzenen Nächte in Tallinn. Schöne Vorhersage und weiterhin aktuell. Warum das alles so ist, aus estnischer Perspektive, hier ein recht neues Buch. Das Überleben des estnischen Pastors Harri Haamer im sibirischen GULag. "Unser Leben ist im Himmel - Erinnerungen an Sibirien", Projekte Verlag 1. Auflage 2007.

Auf Englisch: "We shall live in heaven". (Meie elu on taevas)

Erinnerungsgeschichte, Erinnerungsorte, Erinnerungsschichten –
Annäherungen an Osteuropa

Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V. 15.04.2008

Geschichtspolitik und Gegenerinnerung in Osteuropa Heft 06/2008

Daraus die Einleitung zu einem Beitrag von Karsten Brüggemann:
Karsten Brüggemann
Denkmäler des Grolls
Estland und die Kriege des 20. Jahrhunderts

Im April 2007 löste die Umsetzung des „Bronzesoldaten“ in Estlands Hauptstadt Tallinn Straßenkrawalle und diplomatische Konflikte mit Russland aus. Der Streit wurde zum Symbol für die gegensätzlichen Vergangenheitsbilder in Ost und West. 2004 hatte ein Gedenkstein für estnische Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg in deutscher Uniform gekämpft hatten, international Aufsehen erregt. Nun plant Estlands Regierung, ein Denkmal zur Erinnerung an den Sieg im Freiheitskrieg 1918–1920 zu errichten. Damit geht der Denkmalstreit in die 3. Runde.

Samstag, Oktober 18, 2008

Jaan Kross und Professor Li

Gestern habe ich Professor Sang Gum Li getroffen. Eigentlich ist er zuständig für die deutschsprachige Literatur an der Pusan National University in Südkorea. Weit im Norden von Busan an einem Berghang:
Estland in Korea II
Wahrscheinlich haben Germanistikstudenten dieses Fenster beschriftet:
Estland in Korea
Die Sturm und Drang Zeit und überhaupt deutsche Philosophie stehen bei Professor Li wie bei vielen Koreanern im Vordergrund. Deutschland kennt er schon lange. 1989 hat er vor Ort in der Bundesrepublik miterlebt.
Irgendwann bekam er Joschka Fischers Buch: "Mein langer Lauf zu mir selbst" in die Hände. Da war er auch schon ein Endvierziger. Und tatsächlich, innerhalb weniger Jahre lief er eine Marathonbestzeit unter 3 Stunden und 40 Minuten. 2004 in der Altersklasse über 50 absolvierte er den Berlin-Marathon in 3:43 Stunden. Und nicht nur das, naturverbunden, waren ihm Schuhe suspekt. Einen Lauf hat er barfuß bestanden. Triathlon ist seine andere Leidenschaft, aber das führe hier zu weit.
In dieser Zeit las er in Deutschland über die EU-Osterweiterung. Estland gehörte dazu. Und besonders ein Artikel über den wichtigsten Schriftsteller des Landes lies ihn nicht los. Er wollte mehr erfahren über Jaan Kross, der in seinen Romanen die Geschichte Estlands verarbeitet hat. Gleichzeitig erfuhr er von den deutschsprachigen Balten und ihrer Literatur, die nun schon selber zur Geschichte gehören. Zwei Estlandaufenthalte folgten. Und tatsächlich beherrscht Professor Li schon ein Alltagsestnisch. Ein Essay von Jaan Kross, den er noch persönlich kennen lernte, wurde von ihm ins Koreanische übersetzt, in diesem Band:
Estland in Korea III
Und überhaupt, er ist der einzige Experte für baltische Literatur in Korea. Der erste Schritt ist getan.

Update April 2009:
Ein ganzseitiger Artikel von Professor Li in der Pusan-Ilbo (Südkorea) über Estland.
Hier die Online-Version.

Donnerstag, Oktober 16, 2008

Luxus-Spa oder Bankenkrise?

Estland braucht keine EU-Bürokratie! Solche Sprüche waren 2003 vor dem EU-Referendum von estnischen EU-Gegnern zu lesen und zu hören. Der estnische Wirtschaftsaufschwung werde nur von der lahmen EU behindert, so selbstbewußte estnische Wirtschaftsgurus damals. - Heute schwimmt nicht nur Estland mitten in der Banken- und Finanzkrise, und manche Experten sagen auch, kleinere Länder hätten ihre Währungen schon längst erheblich abwerten müssen ohne den Schutz der EU (siehe Island). Gespannt blicken wir also auch nach Estland und hoffen vielleicht insgeheim wieder auf estnische Kreativität und Erfinderreichtum. "Die Krise erfasst jetzt Osteuropa", titelt zum Beispiel der ARD-Börsenbericht, und bezeichnet die baltischen Staaten als neben Ungarn am stärksten von der Finanzkrise betroffenen Regionen. Ein Einschätzung der Financial Times pflichtet dem bei, und nennt ein hohes Leistungsbilanzdefizit und den Einfluß krisengeschüttelter skandinavischer Banken als Gründe.

Aber es gibt dem auch scheinbar wiedersprechende Meldungen. Angeblich sollen doch gerade die fallenden Immobilienpreise ein deutliches Zeichen überzogener Erwartungen sein? "Neues Luxus-Ferienresort an der estländischen Küste" meldete Gewerbeimmobilien24 gestern. Gleiches meldet "Cash-online" (schöner Name, angesichts der Milliarden-Stützungssteuergelder für die Banken!). Zugegeben wird allerdings, dass Baubeginn der Projekte erst 2009 sei. Ein Vier-Sterne-Hotel, Luxus-Eigentumswohnungen und -villen sollen entstehen - und wo? Gerade dort, wo manche deutschen Reiseführer sogar bisher von einem Besuch abgeraten haben: in der Region Narwa.

Nun ist plötzlich von "Grundstücken in attraktiver Küstenlage" die Rede, von "Medical-Spa-Bereichen" mit über 7.000 qm und Hotels mit Luxus-suiten. Aber der Estland-Freund wird vielleicht spätestens spätestens bei der Ortsbeschreibung stutzen: "Narva-Jõesuu, ein von Russen wie von Estländern gleichermaßen beliebter Ferienort", so preist es das Immobilienportal. Wird hier noch schnell angepriesen, was nachrichtenmäßig noch nicht in der letzten Ecke Estlands angekommen ist? Die IGP Ingenieur AG aus Berlin ist bei diesem Projekt Auftragnehmer eines Investors aus St.Petersburg (Novost-info nennt Andrej Katkov als für das Projekt verantwortlichen Unternehmer, und bezeichnet diesen als Vertrauten von Präsident Putin). Oder retten nun wirklich die Russen das estnische (und nebenbei das deutsche im Ausland tätige) Baugewerbe?Dass Bauplanungen der IGP momentan nicht überall vorankommen, zeigt zum Beispiel ein Bauprojekt in Wattenscheid (Bericht Emsdettener Volkszeitung 5.10.08). Sogar bei den neuen Luxusbauten Moskaus soll es neuerdings Baustopps geben. Oder, wie bei einem Bauprojekt in Berlin-Lichtenberg, dort dauerte es schlappe 10 Jahre bis aus einem begonnenen Projekt und einer langjährigen Bauruine dann doch noch (durch die IGP) eine Luxusanlage wurde (Bericht Berliner Morgenpost 27.06.08). Also: Krise, welche Krise? Irgendwelche Reichen, die hübsch abgeschirmt schick Urlaub machen wollen, werden schon übrig bleiben, auch in Estland!

Für Investoren, die noch "flüssig" sind:

Webseite Narva Jõesuu Spa

Wohungen kaufen in Narva-Jõesuu

Virumaa.ee

Fussball WM-Qualifikation

Eigentlich waren die letzten Fußball-Qualifikationsspiele der estnischen Nationalmannschaft nicht sehr bewegend.
Aber das Unentschieden gegen die Türkei lässt aufhorchen. Für eine Weile wird Estland nun für Gesprächsstoff am Bosporus sorgen.
Übrigens besuchen laut Botschaftsinformation jedes Jahr mehr als 10 000 Esten die Türkei, etwa 600 Türken kommen dagegen vor allem nach Tallinn.

Die politische Seite der Beziehungen: Estland befürwortet den angestrebten EU-Beitritt der Türkei, allerdings mit der nüchternen Einschränkung, dass die Aufnahmekriterien erfüllt werden müssen. Eine große Kulturdebatte zur EU-Erweiterung mit der Türkei, etwa wie in Deutschland, hat es bis jetzt nicht gegeben.

Donnerstag, Oktober 09, 2008

Was ist das schon wieder: Kiiking?

Kiiking - dieses Wort klingt wie der Begriff für einen neuen Straftatbestand – wie Stalking oder eine neu erfundene Sportart. Alles in der Regel eine Anleihe aus dem Englischen. Die Annahme mit dem Sport ist zutreffend, aber die bezeichnung kommt nicht aus dem Englischen, sondern aus dem Estnischen und bedeutet Schaukeln.

Schaukeln eine Sportart? Haben in Estland Kinderspielplätze und Sportplätze fusioniert? Keineswegs. In Estland ist Schaukeln nicht nur ein Kinderspaß und es wird viel geschaukelt. An Stränden und in Parks oder Naturschutzgebieten stehen überdimensionale Schaukeln aus Holz, auf denen problemlos zehn Erwachsene Platz haben. Da diese Konstrukte das ganze Jahr über bei Wind und Wetter im Freien stehen, ächzt es regelmäßig verdächtig beim Schaukeln, aber bislang wurde von nennenswerten Unfällen nicht berichtet.

Da diese Schaukeln schon im benachbarten Lettland weniger bekannt sind, verwundert es wenig, daß gerade die Esten daraus einen Sport machen. Daher auch der Name. „Kiik“ heißt Schaukel, „kiikuma“ schaukeln und Kiiking ist eben das Schaukeln – obwohl das korrekt substantivierte Verb „kiikumine“ heißt. Es gibt sogar einen Weltmeister im Schaukeln, der heißt Andrus Ääsmäe und kommt natürlich auch aus Estland. Davon berichtet nunmehr sogar der Spiegel online.

Aber wenn Schaukeln nun ein Sport ist, in dem sogar Wettbewerbe stattfinden, wo liegt dann die Leistung, die sich messen und vergleichen läßt? Schaukeln ist eben doch nicht gleich Schaukeln. Es geht beim Kräftemessen um den Überschlag. Die Wettbewerbschauekeln sind denn auch andere als jene, die vielerorts an öffentlichen Plätzen in Estland zu finden sind.

Ääsmäe erklärt im Interview, wie man sich zum Weltmeister aufschaukelt. Während der Bewegung nach unten müsse man in die Knie gehen und sich dann blitzschnell am tiefsten Punkt wieder aufrichten, um Schwung zu holen. Dabei liege die Anstrengung eben vor allem darin, den Körper aus den Beinen hochzustemmen, während gleichzeitig die Eingeweide nach unten sacken.
Auf jeden Fall, so Ääsmäe, mache Schaukeln süchtig. Und es sei doch toll, ohne Drogen in den Himmel zu fliegen. Die Gefahr betreffend berichtet der Weltmeister nur von einem gebrochenen Handgelenk bei einem Athleten, der vor der Akrobatik doch nicht auf flüssiges Doping hatte verzichten wollen.

Freitag, Oktober 03, 2008

Startups in Estland

Estland halten viele für einen IT, Internet- und Computervorreiter. Was die Umsetzung von neuen Technologien betrifft, stimmt das schon.
Eine skandinavisch-baltische Webseite beobachtet die Gründerzene bei den Softwareunternehmen: Arcticstartup
Einer der fleissigsten Startup-Initiatoren ist Jüri Kaljundi in Estland. Er ist schon mit 19 in das Geschäft eingestiegen. Eine der bekannten Webprojekte ist das estnische Gegenstück zu Flickr: Nagi.
Arcticsturtup hat Jüri Kaljundi interviewed. Und wieder taucht eine altbekannte Kritik auf. Die technische Entwicklung ist das große Plus in Estland, aber bei der Verbreitung, beim Marketing, ist Estland zu lokal. Es fehlten zumindest europaerfahrene Geschäftsleute, die auch das Marketing verstehen.

Estonia also lacks people with previous international sales, marketing and commercialization skills, even if we have good product development skills. So the key would be to join forces between people in Estonia and those who have done these things already in Western Europe and USA.